Barfuß

Barfuß

Hast du ihn gesehen? Wie hast du dich gefühlt als du den Gott gesehen hast? Halt. Wir fangen von vorn an.

Der goldene Tempel thront hoch oben auf dem Berg von Tirumvala, nahe der Stadt Tirupati. Gemäß Erzählungen markiert er jenen Ort, an dem der Gott Venkateshwara zu Stein erstarrt ist und heute von Hunderttausenden Gläubigern (Swami genannt) täglich aufgesucht wird. Mahesh, Venu und ich gehören für einen Tag dazu. Die ganze Stadt ist dem Hinduismus verschrieben. In ganz Tirupati kann man kein Fleisch kaufen, überall sind kostenfreie Pilgerstätten initiiert um sich auf die heilige Zeremonie vorzubereiten bzw. die Strapaze.

Wir starten um 2 Uhr am Stadtrand, ziehen unsere Schuhe aus und geben sie ab. Barfuss, 3500 Stufen verteilt auf 10 Kilometer. Govinda! Beim Laufen drücken Sie ihre Vorfreude durch Rufen des Götternames aus. Göttliche Anfeuerungsrufe und Freudenschreie. Um 5.30 Uhr sind bereits Tausende Swamis am Gipfel, eine Art riesiges Pilgergebiet, in denen sich die Gläubigen verteilen und ihren ganz eigenen Aktivitäten nachgehen. Zu Beginn entledigen sich viele ihrer Haarpracht. Männer und Frauen opfern ihre Haare für Gott Venkateshwara. In einem freien Bassin kann man sich im geweihten Wasser reinwaschen, bevor es zum Tempel geht. Die Anlage ist riesig. Eine Art Fußballstadion mit einem ausgefeilten System aus langen Gängen und Tribünen, um den Menschenmassen Herr zu werden. Und es deutet sich an, was ich erwartet hatte. Mit jedem Schritt dem ich den Tempel näherkomme steigt die Anspannung merklich. Govinda, Gooovinda. Die Menschen sind in Ekstase, sie drängeln, schieben sich immer weiter in die Nähe ihrer Gottheit und singen dessen Namen in Sprechgesängen. GOOVINDA!.

Ich konnte keine Fotos machen, da ich sonst mindestens 2 Monate das Tageslicht nicht mehr gesehen hätte. Die Auflagen sind strengstens. Die kleinste Widrigkeit wird mit Inhaftierung quittiert. Der Tempel ist prächtig. Und das Warten verstärkt die Hysterie noch um ein Vielfaches. Nach fast 9 Stunden stehen wir im Goldenen Tempel. Es bleiben mir ganze 5 Sekunden, um das Geschmückte Ebenbild von Lord Venkateshwara zu bestaunen. In 10 Metern Entfernung sehe ich im Kerzenlicht Gold über Gold, dichte Blumenkränze und dutzend Öllampen, die die steinerne Statue schmücken. Nach all dem Aufstieg, dem Spenden eines kleinen Teils meiner Haarpracht, Duschen und Einkleiden, stundenlangem Warten und Gedrängel ist es auch für mich ein besonderes Gefühl, angekommen zu sein, auch wenn ich den hinduistischen Glauben nicht teile. Die Spiritualität um den Ort ist zum Greifen nah.

Auch als wir mit zehntausenden gemeinsam essen und weitere Stunden nur darauf warten, heilige Süßigkeiten, die “Laddu”, überreicht zu bekommen. Die Erfahrung lässt die Zeit relativ werden. Eine Stunde verläuft sich wartend in den Massen. Ich bin immer noch barfuß und mein Gang transformiert sich schrittweise vom beschwingten Hopsen eines Junggesellens zu einem Burschen, der auf heißen Kohlen läuft. Nach all der Zeremonie lassen wir uns zu weiteren Aussichtsplattformen, Wasserfällen, wunderlichen Gesteinsformationen und heiligen Quellen fahren. Ich habe nur einen Hauch der Ahnung davon, wie sich ein Hobbit auf dem Weg nach Mordor fühlen muss.

Nach über 15 Stunden gleite ich endgültig zurück in meine ausgelatschten Sneakers. Im Geiste danke ich dem Erfinder der Schuhsohle. Fast ironisch, meine Füße durch die Einengung in Leder und Gummi zu befreien. Ein Bus bringt uns über die Sperpentinen zurück in die vegetarische Stadt. Die Aussicht auf das beleuchtete Tirupati ist atemberaubend.

Wir kamen vor Sonnenaufgang und gingen erst nach ihrem Untergang. Dazwischen lag der Tag. Unvergesslich. Für mich war der Gedanke an den Weg prägender als das eigentliche Ziel. Das Gefühl, über sich hinauswachsen zu können, egal ob der Ort jenseits der Ziellinie die Erwartungen zu erfüllen weiß. Govinda!

Miauuu Tirupati

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